«Pst, sei etwas leise, Lilith, Papi ist krank!». Es gibt diese Dinge, vor denen werdende Eltern niemand warnt. Kranksein ist so etwas. Nicht mehr erlaubt für Eltern. Oder jedenfalls nicht mehr so, wie wir es uns vorher gewohnt waren: Schlafen, klagen, schlafen, sich pflegen lassen, schlafen, fernsehen, schlafen. Das sind viele kleine, nicht sehr witzige Scherze in den Ohren vergrippter Eltern. Als solche dürfen wir uns a.) um die ebenso kranken Kinder kümmern, oder b.) die nicht kranken Kinder bespassen. Schlafen ist mindestens im Fall a.) komplette Fehlanzeige. Bei Magendarmgrippe dürfen wir die Waschmaschine auch in der Nacht füttern. Bei Erkältungen läuft ein nächtlicher Wettkampf: Gewonnen hat, wer es schafft, die ganze Familie mit seinem Hustenanfall zu wecken. Wer immer sich wundert, dass kranke Mütter und Väter ins Büro kommen: Nein, wir fühlen uns nicht so wichtig, dass wir denken unsere Abwesenheit würde eine Weltwirtschaftskrise auslösen. Wir wollen uns nur ein paar Stunden erholen.

Mutterschaftsschutz im europäischen Vergleich

Aber auf die körperlichen Grenzerfahrungen konnten mindestens wir Mütter in der Schweiz uns schon während der Schwangerschaft vorbereiten. Unser Herz pumpt 40 Prozent mehr als im Normalzustand. Ebenso steigt die Menge eingeatmeter Luft um 40 Prozent. Und doch arbeiten wir je nach Job bis zur Geburt unseres Kindes. Wären wir Tiere, es gäbe Proteste von Tierschützern. Irgendwie scheinen wir Schweizer Mütter robuster zu sein als unsere europäischen Nachbarinnen. In Österreich droht Arbeitgebern eine Geldstrafe in vierstelliger Höhe, wenn sie Mütter in den letzten acht Wochen vor der geplanten Geburt beschäftigen. Arbeiten unter Zeit- und Leistungsdruck sind ab der 21. Schwangerschaftswoche verboten. In Italien darf die werdende Mutter zwei Monate vor der geplanten Geburt zuhause bleiben, einen Monat vor der geplanten Geburt muss sie. Und so weiter und so fort.

Die gesetzlichen Grundlagen in der Schweiz

Aber ich will dem Gesetzgeber nicht Unrecht tun. Ein paar Goodies gibt es. Ganze zwei Wochen unbezahlten Urlaub darf eine werdende Mutter nehmen (verliert aber dann den Anspruch auf diese zwei Wochen nach der Geburt). Im Übrigen dürfen Schwangere «auf blosse Anzeige hin» von der Arbeit fernbleiben, so das Arbeitsgesetz. Macht sich gut, wenn frau mal am Arbeitsplatz erscheint, mal nicht. Bleibt die übliche Lösung, nicht bis zu den Wehen arbeiten zu müssen: Frau lässt sich krankschreiben. Wer das nicht will, wird bisweilen auch zu dieser Lösung ermuntert. Beipielsweise dann, wenn die bereits sehr laschen Schutznormen für Schwangere auch noch ignoriert werden: Als vor ein paar Jahren eine befreundete Assistenzärztin schwanger war, hat diese regelmässig in die Nacht hinein, stehend und weit mehr als die grundsätzlich erlaubten neun Stunden täglich gearbeitet. Was nicht in die Arbeitsroutine passt, muss passend gemacht werden. Eine nicht 120 Prozent leistungsfähige Person passt am einfachsten in die Schublade «Unfall/Krankheit». Die Freundin hat dann doch noch aufgegeben und sich krankschreiben lassen. Erst spät und mit schlechtem Gewissen.

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Konsequenzen für Arbeitsroutine und Planungssicherheit

Das irritiert: Warum muss in der Schweiz ein schlechtes Gewissen haben, wer sich nach schlaflosen Nächten nicht mehr zur Arbeit rollen mag? Warum ist arbeiten wichtiger, als dem Bauchbewohner einen stressfreien Start in das Leben zu ermöglichen? Warum darf eine Hochschwangere sich nicht voraussetzungslos in Ruhe auf die Geburt vorbereiten? Rätselhaft ist mir auch, warum die Arbeitgeber hier nicht auf mehr Planungssicherheit pochen: Mit einem fixen Schwangerschaftsurlaub könnten diese mit einiger Zuverlässigkeit voraussagen, wann sie sich umorganisieren müssen. Darum, wie viele Wochen der dauern soll, mag ich hier nicht feilschen. Aber mit der geltenden helvetischen Lösung sitzen Chefs und Chefinnen regelmässig auf Nadeln, weil sie nicht wissen, ob sie plötzlich ohne Mitarbeiterin dastehen.

Folgen durch gesellschaftliche Verhaltensmuster

Das erstaunt umso mehr, als sonst im Arbeitsleben Planung über alles geht. Seit neuestem wissen wir, dass auch die Krankheit der eigenen Kinder in den Familienplaner eingetragen und rechtzeitig kommuniziert werden soll. Zwar sieht das Gesetz vor, dass Eltern sich grundsätzlich drei Tage um ihre kranken Kinder kümmern dürfen. Das passt aber wieder nicht in die Arbeitsroutine. Weswegen faktisch erwartet wird, dass Eltern sich organisieren und den Arbeitgeber nicht mit ihrem kranken Kind belästigen. Oder besser gesagt: Es wird von den Müttern erwartet. Wenn es denn sein muss, kann sie zuhause bleiben, aber nur um ihre Eltern zu mobilisieren oder eine Kinderfrau zu organisieren, welche sie aus der Portokasse bezahlt. Oh – da war doch noch eine andere Option? Ja richtig, meist gibt es doch zu einem Kind auch ein Vater. Der ist grundsätzlich auch fähig, sich um seinen rotzenden Nachwuchs zu kümmern. Findet ein befreundeter junger Vater auch. Leider ist dessen Chef anderer Meinung. Der junge Vater darf nicht zum kranken Kind nachhause – wen kümmert denn das Gesetz, schliesslich geht es um die Arbeit – die Mutter muss drei Tage frei nehmen. Sofern sie es nicht schafft, sich anders zu organisieren. So ist alles in schöner, alter Ordnung: Nur die Arbeitsroutine der Mutter ist gestört, der Vater funktioniert einwandfrei.

Lilith dachte übrigens nicht daran, leise zu sein und hatte eine Alternativlösung parat: «Dann müssen wir halt einen neuen Papi kaufen».

 


9 Kommentare

Anonymous · 10. Februar 2017 um 16:20

Würde ich gerne weiterhin lesen – amüsiere mich köstlich.

    Jill Altenburger · 10. Februar 2017 um 17:26

    Vielen Dank für den Kommentar. Das ist schön zu hören!

Sabrina · 12. Februar 2017 um 20:05

Absolut auf den Punkt! Ich selber habe fast bis zu den Wehen gearbeitet und stand nach 14 wochen wieder auf der matte. Selber krank sein kann man sich als mami nicht erlauben und wenn die kids krank sind muss das Leben als wär nix weiter gehen…. schade…

    Jill Altenburger · 14. Februar 2017 um 14:32

    Danke, Sabrina.

Ingrid L. · 12. Februar 2017 um 21:04

Tja, komisch, bei uns darf auch immer die Mutter sich organisieren, sollte ein Kind krank sein…. zum Glück sind die Kinder eher selten krank und eine tolle Oma oder Tagesmami hilft meistens schnell und unkompliziert. Ich bin Compliance Officer und Mutter vierer Kinder. Ich liebe meine Familie sowie meinen Job und habe bis heute nicht verstanden, warum beides zusammen nicht möglich sein soll ?

    Jill Altenburger · 14. Februar 2017 um 14:31

    Danke, Ingrid!

Anonymous · 13. Mai 2017 um 0:06

Genau auf den Punkt gebracht. In der Schweiz ist die Familiepolitik einfach nur miserabel.

    Jill Altenburger · 14. Februar 2017 um 14:31

    Vielen Dank für diesen Beitrag.

Ana · 4. Dezember 2019 um 14:50

Oh ja. Und wenn der Arzt einen nicht krank schreibt? Ich arbeite in einer Kita und habe noch vier Wochen vor mir. Ich habe starke Rückenschmerzen und häufiger Schwindel und Vorwehen. Diagnose: Normale Schwangerschaft….
Wo bleibt da die Verantwortung den Kindern in der Kita gegenüber?
Kinder hinterherrennen geht schon lange nicht mehr….

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